Der erlösende Kuss
Zu dem Geisser von Isental gesellte sich seit einiger Zeit ein gänzlich Unbekannter und half ihm die Ziegen hüten. Das wäre ihm schon recht gewesen, dass aber der ungerufene Gehilfe auch gar kein einziges Wörtlein redete, sich nie zu erkennen gab und nirgends zu erfragen war, das passte ihm auf die Dauer doch nicht. Er dachte, es könnte am Ende noch ein Geist, eine arme Seele sein; von solchen hatte er ja daheim an langen Winterabenden viel reden gehört. Das war früher in Isental so Brauch, am Abend Geistergeschichten zu erzählen, bis die jüngeren Zuhörer Hühnerhaut bekamen, dass man Käs hätte daran reiben können, und sie die Füsse auf die Bänke hinaufzogen und nicht einmal mehr auf den Abtritt (WC) hinaus durften.
Der Geisser ging also zum Ortspfarrer und erzählte ihm alles. Der erklärte, dem Geist sei schon zu helfen, wenn die Geister sich zeigen können, seien sie noch nicht verloren. »Ich werde ihn zitieren, und übermorgen – zu der und der Stunde – wird er dir erscheinen. Aber in keiner schönen Gestalt! Du musst ihm dann unter allen Umständen einen Kuss geben (ihn anreden und ihn fragen, was man für ihn tun könne – Erzählart vom Erstfelder Tal), sonst ist er für immer verloren, und dir wird’s auch nicht gut gehen. Wagst du es aber, ihn zu küssen, so wird er erlöst sein. Was meinst?« »Ich will ihm den Kuss schon geben, «versichert der Ziegenhirt.» «Aber vergiss nicht, er wird dann nicht schön daherkommen«, warnt noch wohlwollend der Geistliche. Jener beteuert hoch und heilig, den Geist unter allen Umständen erlösen zu wollen.
Der anberaumte Tag war da, der Geisser stand bereit im Schartiwald. Jetzt kam auf einmal eine glühende, funkensprühende Gestalt (eine grosse glühende Kugel, Erzählart vom Erstfelder Tal) auf ihn zu. Da vergass er sein Versprechen, seine festen Vorsätze, und voller Schrecken rannte er in grossen Sprüngen davon. Der Geist aber fuhr in die Höhe, und drei Tage und drei Nächte hörte man ihn in den Lüften schreien.




