Der Hund von Uri
Die Alp Chammli im Schächental ist früher noch viel grösser gewesen. Da hat nämlich auch noch die «Scharhorätäiffi» (Scharhorntiefe) dazugehört, die jetzt von einem Gletscher und von Moränenschutt zugedeckt ist. Damals hat man aber noch ohne weiteres, sogar mit Vieh, über die Chammlilücke noch Graubünden laufen können. Dort hat es aber eine Räuberbande gehabt, die oftmals herübergekommen ist und den Urnern Vieh gestohlen hat. Sie sind ihrer so viele gewesen, wie es Karten im Kaiserspiel hat, nämlich achtundvierzig. Und sie haben sich auch nach diesem Kartenspiel die Namen gegeben. Also etwa: «Roosä Süü», «Aichlän Under», «Blass», «Mugg», «Feen» usw. Zur gleichen Zeit haben die Urner auf Chammli einen Knecht gehabt, der wie ein Hund hat laufen können, weil er keine Milz mehr gehabt hat. Sie sei ihm, wie die einen sagen, herausgeschnitten worden, oder wie andere behaupten, habe er sie bei der Geburt erbrochen, gekotzt. Den Bündnern ist er wohlbekannt gewesen, und sie haben ihn nur den Hund von Uri genannt.
Eines Nachts, als derselbe Knecht auf Chammli schon geschlafen hat, sind die Räuber gekommen und haben alles Vieh gestohlen und in ihren Schlupfwinkel gebracht. Die Urner haben nicht lange überlegen müssen, wer das hätte sein können, und haben sich aufgemacht, ihr verlorenes Eigentum wieder zurückzuholen.
In einer stockdunklen Nacht, da die Räuber in ihrem Versteck im «Oobergaadä» (Heudiele) schon geschlafen haben, sind sie gekommen, haben Wolldecken auf die Pflastersteine vor dem Stall gelegt, dem Vieh die «Tryychlä» und «Schallä» (zwei Arten von Kuhglocken) abgenommen und haben es heimlich hinaus, über die bedeckten Pflastersteine, fortgetrieben. Nur der Hund von Uri ist zurückgeblieben und hat währenddessen von Zeit zu Zeit etwas mit einer kleinen «Tryychlä» geschellt, wie es das Vieh gewöhnlich beim Schlafen und Verdauen auch macht. Erst als die Urner mit ihrer Habe weit genug entfernt gewesen sind, hat er aufgehört zu schellen und ihnen hinaufgerufen: «So, das Vieh wäre fort, wenn ihr jetzt noch den Hund von Uri wollt, so kommt herunter, aber ein bisschen schnell!» Doch, doch, da seien sie dann schnell aufgewacht und aus dem «Oobergaodä» herausgekommen. Sie seien gekommen wie die Bienen. Vorneweg der «Schalläpanggi» (Schallen-Bauer, Spielkarte), der sich dabei ein Bein gebrochen hat, wie man es ja noch heute auf den Jasskarten sehen kann. Aber den Hund von Uri hoben sie nicht mehr einholen können.
Die Bündner haben da natürlich Rache geschworen und sind im nächsten Sommer einmal, als der Hund von Uri gerade in Unterschächen Einkäufe gemscht hat, heimlich wieder auf Chammli geschlichen gekommen und haben den Senn, der gerade alleine beim Käsen in der Hütte gewesen ist, gepackt und haben ihn lebendig über dem Feuer braten wollen. Den sicheren Tod vor Augen, fleht sie dieser an, sie möchten ihm doch noch einen letzten Wunsch erfüllen und ihn noch einmal «pichlä» (Pichel: alphornähnliches Instrument) lassen, und zwar so lange es seine Kraft zulasse. Dagegen haben sie nichts einzuwenden gehabt, und da hat er mit aller Kraft angefangen, seinen Pichel zu blasen, so dass es weit ins Tal hinaus zu hören gewesen ist: «Unsere die grosse <tryychelchüä> (beste Kuh, Leitkuh mit Glocke) will dem Bündnerlande zu!»</tryychelchüä>
Jetzt hat dieser Senn aber in Unterschächen einen Schatz gehabt, der seine Tonsprache verstanden hat, und wie jener beim Kirchgang die Botschaft gehört hat, haben sie sofort Alarm geschlagen im Dorf, und ein Trupp Leute, allen voran der Hund von Uri, ist los gegen Chammli zu, um dem Senn zu Hilfe zu kommen. Aber der ist in der Zwischenzeit, ermüdet vom «Pichlä», zusammengesackt und von den Räubern am «Turner» (drehbarer Käsekesselhalter) über dem Feuer aufgehängt worden. Er ist schon bewusstlos gewesen, als ihn der Hund von Uri gefunden hat. Ein paar Augenblicke später, und er wäre nicht mehr zu retten gewesen.
Weil aber weder Mensch noch Vieh vor dieser Räuberbande sicher gewesen ist, haben die Urner zu Gott gebetet, er möge doch Gletscher über diese Ubergänge wachsen lassen. Und so ist es dann auch gekommen. Und darum eben sind so viele Berge und Kulmen bei uns von ewigem Schnee und Eis zugedeckt.


