Das ist jetzt viele Hundert Jahre seither, da hat ein Bub die Schafe in der Surenen «ghirtet» (füttern, zur Weide treiben usw.). Damals hat die Alp noch den Engelbergern gehört. Wenn er jeweils nichts mehr zu essen gehabt hat, hat er für gewöhnlich etwa ein Schaf geschlachtet und ist, wenn er ein paar Schaffelle zusammen gehabt hat, mit denen gegen Urseren zu und hat sie dort gegen Käse und Zieger getauscht. Da sind einmal auch gerade ein paar Händler mit Schafen aus dem «Wälschland» (hier: Italien) dort gewesen. Das muss eine ganz besondere Sorte Schafe gewesen sein, auf alle Fälle haben sie dem Bub unvorstellbar gut gefallen, jedenfalls mehr als seine, und er hätte noch so gerne eines mit sich genommen. Besonders das eine junge Schäfchen hat es ihm angetan, und er hat die Händler angeredet und sie gefragt, ob er das nicht haben könne? Aber die haben nur gelacht über ihn und gemeint: Er habe ja sowieso kein Geld und er sei doch nur ein Bettelbub! Der Surener Hirt hat aber nicht lockergelassen und so lange «gmiädet» (unaufhörlich bitten) und auf sie eingeredet, bis sie endlich nachgegeben haben «Gut, wenn du jetzt hier auf der Stelle hinkniest und einen Rosenkranz betest, dann kannst du das Schäfchen mitnehmen.» Er habe ihn zwar von der Mutter einst gelernt, aber wenig geübt, hat er gemeint. Und danach hat er angefangen und ist jedenfalls irgendwie zu Ende gekommen mit seinem Rosenkranz und hat auch wirklich das Schäfchen von den Händlern bekommen und ist überglücklich mit ihm seiner Alp zu.
Von da an hat es für ihn nur noch ein Wesen gegeben, und er hat angefangen, das Schäfchen zu verwöhnen. Es hat mit ihm zusammen essen müssen, in der Nacht hat er es zu sich ins Bett genommen und den ganzen Tag hat es um ihn herum sein müssen. Den anderen Schafen hat er nichts mehr nachgefragt. Seine Liebe zu diesem Tierchen ist so weit gegangen, dass er eines Tages gedacht hat, es sollte doch noch getauft werden, schliesslich sei er es ja auch. Da zog er los über die Surener-Ecke nach Attinghausen hinunter, ist dort in die Kirche hinein, hat den Taufstein aufgebrochen, das «Gsäggnet» (Weihwasser) daraus genommen und ist mit ihm wieder gegen Surenen gelaufen und hat sein Schäfchen nach dem christlichen Glauben getauft. Oh, wenn er doch das nur nicht getan hätte! Kaum ist die Taufe vorbei gewesen, ist plötzlich ein wütender Sturm aufgekommen, und aus dem braven Schäfchen ist mit einem Mal ein furchterregendes Ungeheuer geworden. Es hat die Alphütte «z Hutlän und z Fätzä» (zu Lumpen und Fetzen: kurz und klein) geschlagen, ist danach auf seinen Meister, den Hirtenbub losgegangen und hat den Sakramentsfrevel auf blutige Art und Weise an ihm gerächt. Von da an hat das Ungeheuer oder Greiss, wie man ihm gesagt hat, weder Menschen noch Vieh auf Surenen geduldet. So ist die Alp den Engelbergern verleidet, und sie haben sie für ein paar «Batzä» (10-Rappen-Münze) den Urnern überlassen. Aber die sind auch gleich «iibelfäil» (ratlos) gewesen, bis ihnen einmal ein fremdes Männlein, das hier unterwegs gewesen ist und von dieser Geschichte gehört gehabt hat, einen Rat wusste.
Sie müssten ein silberweisses Stierenkalb nehmen und das sieben Jahre lang und jedes Jahr an einer Kuh mehr saugen lassen, bis es dann sieben Kühe seien und der Stier sieben jährig. Dann möge er das Greiss in einem Kampf schon meistern. Nach längerem Suchen haben sie dann so ein Stierenkalb gefunden. Und schon nach vier Jahren ist der Stier so stark geworden, dass sich beinahe niemand mehr zu ihm hingetraut hat, und sie haben ihn darum schon mal Richtung Surenen, auf Waldnacht, hinaufgebracht, wo er in einem Stall, dem Stieren-Stall, wie man ihm heute noch sagt, die restliche Zeit weitergefüttert worden ist. Wie die sieben Jahre vorbei gewesen sind, hätte nach dem Rat des Männleins eine Jungfrau in einem weissen Kleid den Stier zu dem Greiss führen sollen. Nachdem sie da endlich eine gefunden hatten, die sich getraute, dies zu tun, sind sie in einer grossen Prozession von Attinghausen gegen Surenen gezogen. Allen voraus die Jungfrau in einem schneeweissen Brautkleid und mit einem seidenen Band in den Haaren. Wie sie gegen den Stieren-Stall kommen, bleiben die anderen zurück und nur die Jungfrau geht zum Stier hinein und bindet ihn, wie vom Männlein geheissen, am Haarband an und führt ihn so in den Kampf. Der Stier, der sonst keinen mehr zu sich herangelassen hat, gehorcht dieser Jungfrau aufs Wort und lässt sich von ihr ohne Weiteres über die Surener-Ecke dem Greiss entgegenführen. Sobald der Stier das Greiss riechen würde, hat das Männlein noch gesagt, solle sie ihn losbinden und danach so schnell sie könne davonlaufen, aber sie dürfe unter keinen Umständen zurückschauen, sie möge hinter sich hören, was auch immer.
Das Volk, in einem sicheren Abstand, wartet unter dem Eck und schaut gespannt in die Richtung, wo es den Kampf vermutet. Da geht auf einmal ein Brüllen und «Müälä» (dumpfes Brüllen) los, und eine Staubwolke steigt auf, dass man beinahe die Sonne nicht mehr sehen kann . Nur ab und zu einen weissen Fetzen vom Kleid der Jungfrau sieht man darin herumfliegen, und dann ist es auf einen Schlag totenstill. Wie es den Rauch und Staub ein wenig abgezogen gehabt hat, sind sie schauen gegangen, was auf dem Kampfplatz passiert ist. Von der Jungfrau ist weit und breit nichts mehr zu sehen gewesen. Das Greiss, vom Stier übel zugerichtet, ist tot gewesen. Der Stier selber, auch tot, ist beim Alpbach, dem Stierenbach, wie man ihm seither sagt, gelegen. Wahrscheinlich hat er nach dem schweren Kampf zu schnell daraus gesoffen. Aber vom Greiss ist die Alp danach befreit gewesen, und zum Andenken daran haben die Urner den Stier in ihr Landeswappen aufgenommen.


