Es hat eine Zeit gegeben, da haben die Urner und die Glarner der Grenze wegen immer wieder Streit miteinander gehabt, und sie haben einander Schaden zugefügt, wo sie nur konnten.
Den Herren in Altdorf und in Glarus hat dies nicht mehr gefallen, und sie sind darum zusammengekommen und haben folgendes ausgemacht: Bei Tag- und Nachtgleichheit soll von Altdorf und von Glarus aus ein Läufer losgehen, und dort, wo sie einander begegnen, soll dann die Grenze sein. Es möge herauskommen so oder so. Start für die Läufer soll der erste Hahnenschrei sein.
So haben sie es beschlossen, und jede Partei ist darangegangen, einen Hahn zu suchen, der dann möglichst früh am Morgen krähen würde. Die Urner haben, auf den Rat eines alten Mütterleins, einen überaus erbärmlich mageren Hahn ausgesucht, haben ihn in einem engen Körbchen eingesperrt und ihm nur ganz wenig zu fressen und zu saufen gegeben, in der Hoffnung, der Hunger und der Durst würden ihn plagen und er erwache dann so umso früher. Die Glarner ihrerseits sind gerade konträr vorgegangen. Sie haben den fettesten Hahn genommen, den sie gefunden haben, und haben ihn mit den besten Körnern gemästet, in der Meinung, wenn es ihm wohl sei, würde er stolz und hoffärtig schon in aller Herrgottsfrühe den Morgen begrüssen.
Aber die Urner seien die Schlaueren gewesen. An diesem bestimmten Tag hat ihr Hahn schon gekräht, bevor es richtig zu tagen angefangen hat, und ihr Läufer ging los, dem Klausenpass zu. Währenddem sie in Glarus drüben noch immer um den vollgefressenen Hahn herumgestanden sind und darauf gewartet haben, dass er sich bewege, hat der Urner Läufer schon einen grossen Vorsprung herausgeholt gehabt. Erst als die Sonne schon tief in die Täler hineingeschienen hat, ist auch der Glarner Hahn endlich erwacht und hat ein müdes «Gyggeri-Ggyy» gekräht. Da hat sich auch der Glarner Läufer aufgemacht und ging los wie eine Gämse, über Stock und Stein auch dem Klausenpass zu.
Aber wie er gegen die «Schäidegg» hinaufschaut, sieht er den Urner, der schon den höchsten Grat erreicht hat und jetzt bereits bergab gelaufen kommt. Da wird der Glarner beinahe zu einem Pfeil und rennt mit letzter Kraft dem Urner entgegen und versucht so, für seine Leute noch ein bisschen Boden wettzumachen. Aber viel ist da nicht mehr möglich gewesen, und wie sie einander beim «Staldäheeräli» (Staldenhöreli) getroffen haben, hat der Urner gejubelt und gerufen: «So, hier ist jetzt die Grenze!» Da hat der Glarner zu ihm gesagt: «Ach, höre, hab doch ein bisschen Erbarmen mit mir. Der Teil, den du erlaufen hast, ist so viel grösser als meiner, gib mir doch noch ein Stück zurück.» Aber der Urner hat von diesem Handel nichts wissen wollen. Da hat der Glarner zu «miädä» (unaufhörlich bitten) und betteln angefangen, bis der Urner nachgegeben hat. «Gut, so viel gebe ich dir zurück, wie du mich auf deinem Rücken noch weitertragen magst. Du darfst mich aber nicht abstellen.» Auf dies ist der Glarner noch so gerne eingegangen Er hat den schweren Urner auf den Rücken genommen und ist mit ihm bergan gelaufen.
Ein ganzes Stück weit ist er so noch gelaufen, halb auf den Knien, halb auf allen Vieren, bis er beinahe keinen Atem mehr bekommen hat, und da hat er sich mitsamt seiner Last an einem Bächlein niedergelassen und hat zu trinken angefangen und wahrscheinlich zu schnell daraus getrunken, auf alle Fälle ist er da an Ort und Stelle zusammengebrochen und tot liegengeblieben.
Und so ist das Bächlein, welches man noch heute sehen kann, zum Grenzbächlein geworden, und die Urner sind auf diese Weise zu dieser schönen Alp «Ürnerboodä» gekommen.




